Kommentar 9-Euro-Ticket: Danke für diese Schnapsidee!
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Mit nur einem Fahrschein durch ganz Sachsen-Anhalt und Deutschland, mit Bussen und Bahnen im Regionalverkehr – so funktioniert das 9-Euro-Ticket. Was politisch als Entlastungsidee begann, trifft nun in der Realität auf ein unflexibles und unterfinanziertes System. Einmal mehr werden das die Fahrgäste ausbaden müssen, vor allem auf Sachsen-Anhalts Pendler-Strecken. Und doch entpuppt sich das 9-Euro-Ticket als ein genialer Schachzug, findet unser Autor.

- Das 9-Euro-Ticket ist ein Stresstest für das ÖPNV-System.
- Es werden nur wenige zusätzliche Züge angeboten. Die erhöhte Kundennachfrage dürfte kaum bedient werden können.
- Trotzdem: Das 9-Euro-Ticket bringt Pendlern Entlastung und es lädt dazu ein, den Nahverkehr zu testen – der vielerorts besser ist als sein Ruf.
Freitagvormittag, kurz hinter Niederndodeleben, im Regionalzug durch die Börde: Ich werde Ohrenzeuge eines Gesprächs im Obergeschoss des roten Doppelstockzuges. Es geht um das 9-Euro-Ticket, fünf Tage vor dem eigentlichen Start. "Sie fahren seit Berlin damit? Aber das gilt doch noch gar nicht!", empört sich der Zugbegleiter. Schon an seinem Ton höre ich, dass ihn die Sache nicht überrascht. Er ist auf hundertachtzig. Ein Fahrschein wird nachgelöst.
Sekunden später begrüßt mich der Bahn-Mitarbeiter mit den Worten: "So eine Schnapsidee, dieses 9-Euro-Ticket!" Die Politik habe den zweiten Schritt vor dem ersten gemacht und keine Ahnung. Ich seufze verständnisvoll unter der Maske, aber entgegne: "Also ich find's 'ne tolle Sache." – "Ja? Sie werden sich noch wundern", kontert er. Vermutlich haben wir beide Recht.
Die Ausgangslage: ÖPNV wie in der Planwirtschaft
Das 9-Euro-Ticket bietet die Chance, das gesamte System des öffentlichen Nahverkehrs (ÖPNV) nicht nur auf die Probe zu stellen, sondern endlich zu verändern. Vor allem die Deutsche Bahn. Sie ist festgefahren: als hochkomplexer, privatisierter Großkonzern in Bundeshand kümmert sie sich einerseits um ein Netz mit milliardenschwerem Investitionsstau. Andererseits lässt sie eigenwirtschaftlich weiße Fernverkehrszüge durchs Land rollen und ist dann noch einer der großen Mitbewerber im Nahverkehr.
Der Nahverkehr ist seit Mitte der 1990er Ländersache und vor allem eins: ein teures Zuschussgeschäft. Um Steuergelder zu sparen, geht es im Schienennahverkehr zu wie zu Planwirtschafts-Zeiten.
Auch in Sachsen-Anhalt werden Verkehrsverträge zwischen zehn und 15 Jahren per Wettbewerb geschlossen – Züge, Personal, Sitzplätze und mehr werden nahezu unverrückbar festgeschrieben. Dem Bahnbetreiber Abellio ist dies zum Verhängnis geworden.
Keine Fahrgäste, keine Verbindung
Bleiben dann auf einzelnen Strecken Fahrgäste weg, werden Verbindungen zusammengestrichen, schlimmstenfalls eingestellt. Es gilt: ohne Nachfrage kein Angebot. Ein Denkfehler, denn um Menschen für Bus und Bahn zu begeistern, müsste das Angebot an erster Stelle stehen. Kunden, die sich einmal abgewandt haben, sind schwer wiederzuholen. Die Verkehrswende ist in Deutschland derzeit eine Frage von Jahrzehnten. So viel Zeit haben wir nicht.
Flickenteppich der Verkehrsverbünde
Das 9-Euro-Ticket der Bundesregierung hingegen war nur eine Frage von Wochen. Es reduziert die Kosten für Bus und Bahn auf einen Bruchteil. 9 Euro, einen Monat, fertig.
Das Problem: Wieder kommt die Angebotsseite zu kurz. Es gibt, von wenigen Zügen extra abgesehen, keine Chance, die beabsichtigte höhere Nachfrage zu bedienen. Schlimmer noch: In Magdeburg wird in den Ferien auf Sommerfahrplan umgestellt, Bus- und Straßenbahnfahrer nehmen ihren verdienten und lange geplanten Urlaub. Angebotspreise ohne Ware – im Handel würde man das ein verbotenes Lockangebot nennen. In der ÖPNV-Welt ist es ein alternativloser Schnellschuss – und er kommt einer Revolution gleich.
Denn zum länderorganisierten ÖPNV gehört in Deutschland noch ein Netz aus über 60 Tarif- und Verkehrsverbünden – mit eigenen Tickets, eigenen Preisen, eigenen Regeln. Beispiel: Wer in Sachsen-Anhalt mit dem Zug von Tangerhütte nach Magdeburg will, kann zwischen 6,60 Euro Verbundtarif, 6,10 Euro fürs Hopper-Ticket oder 5,50 Euro zum Deutschlandtarif mit BahnCard-50-Rabatt wählen. Eines dieser Tickets gilt aber erst nach 9 Uhr und ein anderes muss vor Abfahrt entwertet werden. Der Kunde muss Kenner sein, König ist er nicht.
Das Wunder: Eine Fahrkarte öffnet die Grenzen
Das 9-Euro-Ticket räumt auf einen Schlag damit auf. Es überwindet die fahrgastfeindliche Tarif-Kleinstaaterei. Ein wahrer Geniestreich, der vermutlich allein der Kürze der Zeit geschuldet ist – ehe alle Verkehrsunternehmen überhaupt nur nach den Krümeln des kleinen Kuchens schreien konnten.
Die chronische Unterfinanzierung des ÖPNV hätte im Bundesrat beinahe die Zustimmung der Länder gekostet. Doch die Idee des 9-Euro-Tickets war da schon zu populär, um sie noch fallenzulassen. Sieben Millionen verkaufte Fahrscheine schon zum Start konnten nicht irren – hinzu kommen hunderttausende Abo-Kunden. Sie alle und die mediale Aufmerksamkeit für den ÖPNV haben erreicht, dass nun die Zeichen auf Ausbau stehen. Aber er wird dauern.
Die Zukunft: Schmerzhafte Zeiten
Der erste Geltungstag des 9-Euro-Tickets ist glimpflich verlaufen. Die Bahn sprach von einem "ruhigen Start". Viele Züge waren dennoch etwas voller und das lag nicht nur an den zahlreichen neugierigen Journalistinnen und Journalisten unter den Mitfahrern. Rucksacktouristen trafen auf Deutschland-Bummler, routinierte Pendler auf nervöse Neueinsteiger. Die ersten Fahrräder mussten aus Platzgründen aber schon an den Bahnsteigen bleiben.
Praxis-Tipp: Fahrradmitnahme mit dem 9-Euro-Ticket Grundsätzlich können in den Regionalzügen in Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie im MDV-Gebiet in Sachsen Räder kostenfrei mitgenommen werden, sofern es die Kapazitäten der Züge hergeben. Eine Mitnahmegarantie gibt es nicht – daher besteht insbesondere zu Stoßzeiten ein erhebliches Risiko, stehengelassen zu werden. Die größten Kapazitäten für Fahrräder gibt es außerhalb der Pendlerzeiten auf den Linien mit Doppelstockwagen: Halle-Jena, Halle-Magdeburg, Burg-Braunschweig, Magdeburg-Berlin sowie Magdeburg-Uelzen.
Das alles ist erst der Anfang. Der Feierabend- und Wochenendverkehr wird drei Monate lang zum Stresstest. Reisende werden leiden. Bahnpersonal wird schwierige Diskussionen führen und unangenehme Entscheidungen treffen müssen.
Problemstrecke: Magdeburg – Berlin
Die Problem-Strecken sind bekannt: Dazu zählt allen voran die Verbindung zwischen Magdeburg und Berlin. Denn bis auf zwei ICE- und IC-Züge pro Tag wird hier alles über den Nahverkehr abgewickelt. Schon zu Normalzeiten gibt es da, obwohl der Zug aus fünf Doppelstockwaggons besteht, auf manchen Abschnitten keine freien Plätze mehr. Im Regionalexpress zwischen Dessau und Berlin ist das Bild ähnlich – und der fährt am Wochenende nur alle zwei Stunden.
Neu auf der Problem-Liste ist der Regionalexpress zwischen Stendal und Uelzen. Während das 9-Euro-Ticket gilt, ebnet er den Weg in Richtung Hamburg – und wird auch an seine Grenzen geraten.
Regionalverkehr in Sachsen-Anhalt: besser als sein Ruf
Ist das 9-Euro-Ticket also doch eine Schnapsidee?
Mitnichten. Denn die politisch gewollte Entlastung kommt bei den Pendlern an. Fast alle erhalten eine Gutschrift. Für Millionen andere Menschen ist es eine Einladung, den Nah- und Regionalverkehr einmal kennenzulernen, auch abseits der Hauptstrecken.
Der Regionalverkehr ist häufig besser als sein Ruf. Zwei Beispiele: Von Halle fährt werktags stündlich ein Bus mit WLAN nach Wettin – das Saale-Panorama von der Burg aus lohnt sich. Auch das Bus-Netz in der Baumkuchenstadt Salzwedel kann sich sehen lassen. Einen Fahrplan gibt es nicht, doch selbst am Wochenende lassen sich spontan Busse zu jeder beliebigen Haltestelle bestellen, zur vollen oder halben Stunde. Mit dem 9-Euro-Ticket geht das ohne zusätzliche Kosten.
MDR (André Plaul)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 03. Juni 2022 | 06:40 Uhr
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