Autofreie Innenstädte Bahn frei für autofrei? So zögerlich sind Städte in Mitteldeutschland
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Wer sagt, dass in Wohngebieten und Innenstädten Autos der meiste Platz zusteht und sie überall den Stadtraum zuparken? Das hinterfragen immer mehr Menschen und Stadtplanende. Sie haben viele andere Ideen, um das Leben in Städten klima- und menschenfreundlicher zu gestalten. Aber: Umgesetzt wird davon in Mitteldeutschland wenig. Warum eigentlich nicht?

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Ljubljana hat 2007 die Innenstadt für den Autoverkehr gesperrt, Barcelona gestaltet Wohngebiete autofrei um, Paris will Fahrradfahrern Vorrang geben und besteht auf Tempo 30 für Autos. In Wien und Köln-Nippes sind autofreie Wohngebiete gebaut worden, Drewitz bei Potsdam gestaltet eine DDR-Plattensiedlung in eine Gartenstadt um, in der Natur und ÖPNV Vorrang haben.
Alles Ansätze, damit Städte bessere Luft, mehr Platz und höhere Lebensqualität für die Bewohner erhalten, anstatt unter Blechlawinen und Feinstaub zu ersticken. Und was passiert in Mitteldeutschland?
Es gibt Städte in Deutschland, die machen mehr als die in Mitteldeutschland.
Nüchterner Blick: Andere machen mehr
"Schwierig. Wir sind nicht führend - weder in Deutschland noch in Mitteldeutschland", konstatiert Laurenz Heine vom Verkehrsclub Deutschland (VCD), einem gemeinnützigen Umweltverband, der sich für eine sozial- und umweltverträgliche Verkehrswende einsetzt.
Das bestätigt auch der Soziologe und Sozialstrukturanalytiker von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Prof. Dr. Reinhold Sackmann: "Es gibt einzelne Initiativen. Aber es gibt Städte in Deutschland, die machen mehr als die in Mitteldeutschland."

Sachsen: Kleine Einzelprojekte, kein großer Wurf
Laurenz Heine ist neben seiner Arbeit im Verkehrsclub auch Regionalkoordinator des bundesweiten Netzwerkes Wohnen und Mobilität für Chemnitz, Stollberg und Zwönitz. Für Sachsen fallen ihm keine Projekte ein, in denen bereits Menschen in autofreien Siedlungen oder autoarmen Wohngebieten leben.
Außer einigen Fußgängerzonen gibt es in Sachsen wenig.
In Leipzig sei ein autoarmes Wohngebiet hinter dem Hauptbahnhof geplant. "Außer einigen Fußgängerzonen gibt es in Sachsen wenig", so Heine. Einzelne Carsharing-Projekte mit Großvermietern fallen ihm ein. Aber sonst? Bei Bauprojekten würden immer wieder herkömmliche Dinge geplant, statt neue Wege eingeschlagen: Straßen und Parkplätze entstünden im Wohngebiet, Tiefgaragen gleich nebenan. Alles sei auf Autoverkehr ausgelegt. "Planer rechnen immer damit, dass alle Leute mit dem Auto bis direkt vor die Tür fahren." Dabei würden viele Eltern ihre Kinder gern gefahrlos zur Schule gehen oder auf Straßen spielen lassen.
In Chemnitz etwa würden sich "die Autofahrer beschweren, dass sie ihre Autos nicht kostenfrei in der Innenstadt abstellen können, aber die Tiefgaragen sind leer. Der Punkt ist: Der Stadtraum ist für alle da, aber nicht unbegrenzt verfügbar." Auch in Dresden und Leipzig seien nach 1990 viele Tiefgaragen direkt in den Altstädten gebaut worden, so dass Autofahrer auch bis in die Innenstädte hineinfahren.
Verkehrsversuch in Görlitz
Sobald Straßen oder Stadtgebiete autofrei werden sollen, tauchen dieselben Diskussionen und Abwehrargumente auf. Die Stadt Görlitz kennt das, nachdem sie angekündigt hatte, im Herbst 2021 die untere Jakobstraße für einen Verkehrsversuch für Autos zu sperren.
Händler fürchteten um ihre Umsätze, Anwohner lehnten Fußwege bis zum nächsten Parkplatz ab. Dabei will die Stadt Anwohner, Lieferfahrzeuge, Rettungsdienst, Busse, Taxis, Handwerker weiterhin motorisiert in die Altstadt fahren lassen. Nun sollen Bürger mit entscheiden, aus welchen Straßen der individualisierte Autoverkehr ferngehalten wird.
Sachsen-Anhalt: Zweiter Anlauf für autoarme Altstadt Halle
Eine "weitestgehend autofreie Altstadt" - die wollte auch der Stadtrat in Halle/Saale. Doch in einem Bürgerentscheid 2021 lehnte die Mehrheit der Hallenser das Konzept ab. Die Initiatoren des Bürgerentscheids und ein CDU-Stadtrat kritisierten unter anderem, dass der Lieferverkehr eingeschränkt würde und alternative Parkplätze nicht rechtzeitig fertig seien. Allerdings richtete sich der Bürgerentscheid nur gegen konkrete Ideen im Beschluss – nicht gegen den Plan an sich, den Autoverkehr in der Innenstadt einzuschränken. Fazit: Die Stadt muss ihre Pläne überarbeiten.
Der Beigeordnete für Stadtentwicklung und Umwelt, René Rebenstorf, erklärt auf Nachfrage des MDR: "Ein neues Konzept für die Altstadt wird im Kontext des gerade für die Gesamtstadt im Entstehen befindlichen 'ganzheitlichen Mobilitätskonzepts' erarbeitet." Dieses Konzept sollen die Gremien des Stadtrates Ende 2022 als Entwurf auf ihre Tische bekommen.
Soziologe: Slogan autofreie Stadt umwidmen
Dass viele Hallenser den Plan der Stadt abgeschmettert haben, hatte für den Soziologen Prof. Dr. Reinhold Sackmann von der Uni Halle-Wittenberg mehrere Gründe. Der Hauptgrund: "Die Gegner hatten ihre Argumente viel klarer vorgebracht, als die Befürworter der autofreien Altstadt." Das sei vielerorts in Deutschland zu beobachten.
Die am Bestand des Status Quo interessierten Menschen hätten meist sehr klare Vorstellungen von dem, was durch die Einführung einer autoarmen Innenstadt angeblich verloren gehe. "Das, was man mit einer autoarmen Innenstadt gewinnen könnte, ist dagegen erst etwas, wofür man Werbung machen muss." Sackmanns Vorschlag: "Der Slogan autofreie Stadt ist im Grunde negativ. Man muss ein positives Bild schaffen, also nicht vom Wegdrängen der Autos her argumentieren, sondern mit dem Bild der lebendigen Stadt arbeiten."

Thüringen: "Das dauert aber alles noch"
In Jena wird seit Jahren über Verkehrsverringerung diskutiert. Der Stadtentwicklungsausschuss des Stadtrats hatte im November 2020 eine Vorlage für eine autofreie Kernzone in der Stadt abgelehnt. Der Ausschuss begründete sein Nein zur Vorlage damit, dass sie rechtlich nicht haltbar sei. Der Beirat für Klimaschutz hatte das Konzept eingebracht.
Danach sagte ein Stadtsprecher, dass ein kompletter Ausschluss des Verkehrs erst einmal unrealisierbar bleibe. Die Verwaltung arbeite an Plänen, "die Innenstadt soll verkehrsberuhigter werden". Vor einem Jahr hieß es: "Das dauert aber alles noch." Auf eine erneute Anfrage des MDR hieß es: "Die Aussage trifft nach wie vor zu."
Ab 2024: weniger Parkplätze oberirdisch
Ab 2024 will Jena schrittweise den Eichplatz umgestalten und die Rathausgasse mit einbeziehen. Dann sollen die oberirdischen Parkplätze in Tiefgaragen verlagert werden. An deren Stelle sollen Wohn- und Geschäftshäuser und eine Grünanlage entstehen und die bestehende Fußgängerzone vergrößert werden, sagt ein Stadtsprecher. Ab 2024 soll über den östlichen Löbdergraben "deutlich weniger Kfz-Verkehr" fließen.
Erfurt will besser gehen und radeln
Die Landeshauptstadt Thüringens ist zwar nicht autofrei, dafür aber eine von fünf Modellstädten bundesweit für besseren Fußverkehr. Der Fachverband Fußverkehr Deutschland Fuss e.V. unterstützt Erfurt - und auch Meißen in Sachsen - als Modellstadt beim Erstellen einer Fußverkehrsstrategie. Das Projekt mit dem Titel "Gut gehen lassen - Bündnis für attraktiven Fußverkehr" soll dazu beitragen, das Zu-Fuß-Gehen in der Stadt attraktiver zu machen.
Auch Radfahrer sollen mehr Platz bekommen. Der Stadtrat stimmte im Sommer 2021 für die Ziele des Radentscheids. Nun strebt er ein durchgängiges Radwegenetz und mehr Rad-Abstellmöglichkeiten an.
Viele Gründe für Ungleichgewicht des Autoverkehrs
Allerdings: Ebenso wie die anderen Großstädte Mitteldeutschlands gilt für den ökologischen Verkehrsclub VCD Erfurt als "eine autofreundliche Stadt". Und: "Straßenraum zulasten des Autoverkehrs umzuverteilen oder autofreie Wohngebiete sind immer noch kein Thema", kritisiert Falko Stolp von der Ortsgruppe Erfurt. Sein Kollege für Mitteldeutschland, Laurenz Heine, kennt die Gründe:
- Nach dem Zweiten Weltkrieg seien die Städte für den Autoverkehr ausgebaut worden - in Ost und West.
- Magdeburg, Dresden oder Erfurt seien keine Stauhochburgen wie beispielsweise Stuttgart oder Hamburg, weil die Innenstädte Mitteldeutschlands nach 1990 besonders gut für Autofahrende erschlossen worden seien. Sie kämen zügig und ohne Hindernisse in die Städte.
- Park&Ride-Angebote würden daher seltener angenommen als in Westdeutschland.
- Mehrspurige Ringstraßen um Innenstädte wie etwa um Leipzig oder Chemnitz seien Hindernisse für Fußgänger und Radfahrer. Radwege seien oft undurchdacht und/oder nicht ausgebaut worden.
Fazit: Kommunen sollten weg von Autozentrierung
"Grundsätzlich müssen wir akzeptieren, dass die Autozentrierung irrelevant geworden ist – sei es aus sozialen oder Gründen der Klimagerechtigkeit. Hier braucht es Maßnahmen, die den Ausstieg erleichtern", sagt die Hamburger Mobilitätsexpertin, Katja Diehl. In einem MDR-Interview kritisierte sie "blinde Flecke" bei der Mobilität selbst, aber vor allem bei der Gestaltung von Städten, Dörfern und dem Ausbau des Nahverkehrs für Menschen auf dem Land.
Grundsätzlich müssen wir akzeptieren, dass die Autozentrierung irrelevant geworden ist – sei es aus sozialen oder Gründen der Klimagerechtigkeit.
Mehr Mut in Rathäusern und bei Investoren
Auch der mitteldeutsche Verkehrsexperte Heine sagt: "Ich wünsche mir mehr Mut in Politik und Verwaltung. Beide Seiten sollten sich gegenseitig Rückendeckung geben, wenn sie Projekte planen." Und Soziologieprofessor Dr. Reinhold Sackmann ist dafür, dass sich zuerst die Investoren und Wohnungsbaugesellschaften auf das Konzept der Autofreiheit einlassen müssten. "Leider gibt es in Mitteldeutschland wenige Vorbilder."
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Der Osten unter Strom | 30. März 2022 | 20:15 Uhr